Der Orientalismus und die AfD
Ozan Zakariya Keskinkılıç: Die Islamdebatte gehört zu Deutschland
Rechtspopulismus und antimuslimischer Rassismus im
(post-)kolonialen Kontext. AphorismA Verlag, Berlin 2019. 150 Seiten, 15
Euro. | https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/377_mode/helber
Ausgangspunkt für Ozan Z. Keskinkılıçs Auseinandersetzung
mit der Islamdebatte ist eine arabisch beschriftete historische
Landkarte Europas, die er 2018 in einem Geschäft in Istanbul entdeckte.
Die Karte, abgebildet auf dem Cover seines Buches Die Islamdebatte
gehört zu Deutschland, irritiert europäische Leser*innen. Indem sie den
Kontinent Europa in arabischer Schrift benennt, hinterfragt sie dessen
»Anspruch auf Universalität und Norm«. Für Keskinkılıç spielt die Karte
zudem mit der rassistischen Verschwörungstheorie von der »Islamisierung
des Abendlandes«.
Für seine Diskursanalyse hat Keskinkılıç Wahlprogramme, Tweets und Redebeiträge von AfD-Politiker*innen analysiert und sie mit den Aussagen zweier Kolonialkongresse 1905 und 1910 im Berliner Reichstag in Beziehung gesetzt. Theoretisch beruft er sich auf Edward Saids postkoloniales Grundlagenwerk »Orientalism« (1978). Saids Kernaussage ist, dass es »den Orient« nicht gibt. Er ist vielmehr ein Produkt der europäischen Wissenschaft und Literatur, die den Orient nicht nur erschaffen, sondern auch dessen Beherrschung legitimieren will.
Keskinkılıç sieht Vergleichbares beim antimuslimischen Rassismus, der »sich nicht für die Wahrheit der Anderen interessiert, sondern jene Wahrheit produziert«. Dabei werden Menschen zu Muslim*innen gemacht, sie werden homogenisiert, essentialisiert, naturalisiert und kriminalisiert. Keskinkılıç verdeutlicht, dass Aussagen, die den antimuslimischen Rassismus der Gegenwart kennzeichnen, historische Vorläufer haben. Geht es aktuell darum, als muslimisch markierte und rassifizierte Menschen auszugrenzen und gar deren Ertrinken im Mittelmeer zu legitimieren, so waren die Sprecher der Kolonialkongresse an einer Aufrechterhaltung der Hegemonie in den deutschen Kolonien in Afrika interessiert. Diese sahen sie durch das Wachstum der muslimischen Bevölkerung gefährdet.
Keskinkılıç veranschaulicht somit, dass die rassistischen Äußerungen gegenüber Muslim*innen nicht von der AfD erfunden wurden. Sie stammen aus einem historisch gewachsenen (post-)kolonialen Wissensarchiv über vermeintlich bedrohliche Andere. Dieses Wissen ist bei weiten Teilen der deutschen Gesellschaft vorhanden und kann von Politiker*innen unterschiedlicher Parteien genutzt werden.
Keskinkılıç stellt außerdem Bezüge zwischen antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus her. Er führt an, dass Genozide nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wurden und mit der Rede von der bedrohlichen »Islamisierung« auch Muslim*innen Macht im Hintergrund zugeschrieben wird. Muslim*innen würden ebenso wie Juden und Jüdinnen hypersexualisiert und als illoyal und unfähig zur Assimilation erklärt. Keskinkılıçs Argumentation übersieht allerdings den Vernichtungswunsch, der dem Antisemitismus innewohnt, sowie die Beziehung zwischen Antisemitismus und Kapitalismus. Während der/die rassifizierte Andere als Arbeitskraft ausgebeutet werden kann, ist ‚der Jude‘ laut dem Antisemitismuskritiker Moishe Postone die Personifizierung »der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals«.
Das gehäufte Interesse antirassistischer Autor*innen, über Parallelen zwischen Rassismus und Antisemitismus zu schreiben, bedarf wiederum einer eigenen Diskursanalyse. Keskinkılıçs Fazit, solidarisch und »gleichzeitig antisemitismus- und rassismuskritisch zu sein«, ist dafür ein guter Ausgangspunkt.
von Patrick Helber
Für seine Diskursanalyse hat Keskinkılıç Wahlprogramme, Tweets und Redebeiträge von AfD-Politiker*innen analysiert und sie mit den Aussagen zweier Kolonialkongresse 1905 und 1910 im Berliner Reichstag in Beziehung gesetzt. Theoretisch beruft er sich auf Edward Saids postkoloniales Grundlagenwerk »Orientalism« (1978). Saids Kernaussage ist, dass es »den Orient« nicht gibt. Er ist vielmehr ein Produkt der europäischen Wissenschaft und Literatur, die den Orient nicht nur erschaffen, sondern auch dessen Beherrschung legitimieren will.
Keskinkılıç sieht Vergleichbares beim antimuslimischen Rassismus, der »sich nicht für die Wahrheit der Anderen interessiert, sondern jene Wahrheit produziert«. Dabei werden Menschen zu Muslim*innen gemacht, sie werden homogenisiert, essentialisiert, naturalisiert und kriminalisiert. Keskinkılıç verdeutlicht, dass Aussagen, die den antimuslimischen Rassismus der Gegenwart kennzeichnen, historische Vorläufer haben. Geht es aktuell darum, als muslimisch markierte und rassifizierte Menschen auszugrenzen und gar deren Ertrinken im Mittelmeer zu legitimieren, so waren die Sprecher der Kolonialkongresse an einer Aufrechterhaltung der Hegemonie in den deutschen Kolonien in Afrika interessiert. Diese sahen sie durch das Wachstum der muslimischen Bevölkerung gefährdet.
Keskinkılıç veranschaulicht somit, dass die rassistischen Äußerungen gegenüber Muslim*innen nicht von der AfD erfunden wurden. Sie stammen aus einem historisch gewachsenen (post-)kolonialen Wissensarchiv über vermeintlich bedrohliche Andere. Dieses Wissen ist bei weiten Teilen der deutschen Gesellschaft vorhanden und kann von Politiker*innen unterschiedlicher Parteien genutzt werden.
Keskinkılıç stellt außerdem Bezüge zwischen antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus her. Er führt an, dass Genozide nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wurden und mit der Rede von der bedrohlichen »Islamisierung« auch Muslim*innen Macht im Hintergrund zugeschrieben wird. Muslim*innen würden ebenso wie Juden und Jüdinnen hypersexualisiert und als illoyal und unfähig zur Assimilation erklärt. Keskinkılıçs Argumentation übersieht allerdings den Vernichtungswunsch, der dem Antisemitismus innewohnt, sowie die Beziehung zwischen Antisemitismus und Kapitalismus. Während der/die rassifizierte Andere als Arbeitskraft ausgebeutet werden kann, ist ‚der Jude‘ laut dem Antisemitismuskritiker Moishe Postone die Personifizierung »der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals«.
Das gehäufte Interesse antirassistischer Autor*innen, über Parallelen zwischen Rassismus und Antisemitismus zu schreiben, bedarf wiederum einer eigenen Diskursanalyse. Keskinkılıçs Fazit, solidarisch und »gleichzeitig antisemitismus- und rassismuskritisch zu sein«, ist dafür ein guter Ausgangspunkt.
von Patrick Helber
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