Mathias Lohre


Identitätspolitik auf Abwege - Mathias Lohre klagt die Selbstmitleider an. 

Matthias Lohre

Das Opfer ist der neue Held. 

 

Das Opfer ist der neue Held: Ich leide, also bin ich

Die Anhänger von Trump oder auch die der AfD halten sich gerne für benachteiligt. Sie leiden tatsächlich – aber an etwas ganz anderem, als sie glauben. Ein Buchauszug 

Der Text ist ein Auszug aus Matthias Lohres neuem Buch: "Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben."
Der bedauernswerteste Mensch der Welt lebt so, wie Kinder sich den Alltag eines Königs vorstellen mögen. Den halben Tag sieht er fern. Eine siegreiche American-Football-Mannschaft lud er zu sich nach Hause und servierte ihr zwischen vergoldeten Kandelabern Berge von Burgern, Pommes und Pizza. Wenn ihm etwas nicht passt, schreibt er im Bett oder auf dem Klo Twitter-Nachrichten, mit denen er die halbe Welt aufschreckt. Und wenn er auf seinem großen Schreibtisch einen Knopf drückt, bringt ihm ein Butler eine Diet Coke. Zwölfmal pro Tag. Trotzdem stellte Donald Trump sich 2017 an ein Rednerpult und rief: "Kein Politiker in der Geschichte – und ich sage das mit großer Gewissheit – wurde schlimmer oder unfairer behandelt!"
Schlimm und unfair behandelt? Trump ist nie gefoltert worden. Nie ist er wegen seiner Überzeugungen ins Gefängnis gekommen, und nie hat er sich verstecken müssen. Im Gegenteil scheint er jederzeit zu sagen und zu tun, worauf er gerade Lust hat. Warum also beklagt er sein Schicksal? Und warum teilen Dutzende Millionen Amerikaner seine Sicht? Seine Anhänger glauben ihm, wenn er sagt, eine Verschwörung hoher Staatsbediensteter wolle ihn zu Fall bringen. Sie schreien Reporter an, wenn Trump behauptet, TV-Sender brächen Live-Übertragungen seiner Reden ab, weil diese ihnen nicht gefielen. Und sie stimmen ihm zu, wenn er auf Twitter schreibt: "Das Opfer hier ist der Präsident."

Der mächtigste Mensch der Welt – ein Opfer?

Dabei ist Trumps aggressives Selbstmitleid nicht einmal das Bemerkenswerteste. Noch erstaunlicher ist, wie es ihm gelingt, Millionen Amerikaner von seinem Opferstatus zu überzeugen. Indem er sich als von finsteren Mächten Verfolgter präsentiert, den allein die Unterstützung loyaler Anhänger vor dem Fall bewahrt, festigt er seine Macht. Der 45. US-Präsident bietet das spektakulärste Beispiel einer Entwicklung, die vor seinem Amtsantritt begonnen hat und unsere Welt lange nach seinem Abgang prägen wird: den Aufstieg des Opfers vom Außenseiter zum Helden.
In Deutschland beschwören AfD-Politiker eine "Selbstzerstörung unseres Staates und Volkes". Angeblich betreiben Politik und Medien die "Überfremdung" Deutschlands. Das Ziel des verräterischen Regimes sei der "Volkstod". Ähnliches sehen wir in Ungarn, Polen, der Türkei oder Brasilien. Dass niemand außer den vermeintlichen Opfern die Verschwörung erkennt, beweist aus ihrer Sicht gerade deren Ausmaß – und ihre eigene Erwähltheit.
Die neue Lust am Opfer-Sein floriert auch unter Linken. An Universitäten fordern Studierende umfassenden Schutz vor unliebsamen Meinungen ein. Sie fürchten, selbst Worte in einem Buch könnten sie traumatisieren. "Triggerwarnungen" sollen junge Leser davor bewahren, sich schockartig an schmerzvolle Erlebnisse erinnert zu fühlen. Selbst dann, wenn es gar nicht ihre Erlebnisse sind, sondern die anderer Frauen, Schwuler oder African Americans. So sei es schwarzen Studenten nicht zuzumuten, rassistische Schimpfworte in einem Artikel zu lesen – selbst wenn der Text Rassismus kritisch behandelt. Genauso müssten weibliche Jura-Studierende Vorlesungen meiden dürfen, welche die Rechtsprechung in Vergewaltigungsfällen behandeln. Die neuen Opfer erklären anderer Leute Leid zu ihrem eigenen und leiten daraus ein Recht auf Schutz ab.
Ihr subjektives Empfinden genügt ihnen als Beweis. Jeder Einwand, jede Verteidigung bestätigt ihnen nur die Verblendung der anderen. Die neuen Opfer halten sich für ohnmächtig, aber moralisch überlegen.
"Es sind allerdings so gut wie nie die tatsächlichen 'Opfer'", urteilt die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, "sondern meist selbst ernannte Opfervertreter". Diese wollen "anderen aufgrund ihrer Identität das Recht auf Verständnis oder auch nur freie Meinungsäußerung zu bestimmten Themen" zusprechen oder verweigern. Die Professorin an der Ruhr-Uni Bochum sieht darin eine Gefahr. Die Identitätspolitik war einmal dazu gedacht, benachteiligte Gruppen sichtbarer zu machen und zu stärken. Heute aber hat sie vielfach "die Gestalt einer Anklage durch selbst ernannte Richter angenommen".
Opfervertreter unterteilen "die Menschen je nach Hautfarbe oder anderer nicht selbst erzeugter Eigenschaften". Die einen erklären sie zu Opfern, die anderen zu Tätern "vergangenen und systemischen Unrechts". Aus Sicht der Opfervertreter haftet auch an den Nachfahren echter oder vermeintlicher Täter untilgbare historische Schuld. Deshalb müssten, ja dürften die Nachkommen der Opfer ihnen nie verzeihen. Die Identität als Opfer und Täter wird vererbt.
So teilen Trump, AfD und Verfechter der Identitätspolitik eine düstere Weltsicht. Um sich herum vermuten sie abgehobene Eliten, die aufrechte Bürger wie sie erniedrigen. In diesem Überlebenskampf ist ihnen jedes Mittel recht, schließlich verteidigen sie ein hehres Ideal. So handeln sie unfair im Namen der Fairness, eigensüchtig im Namen des Gemeinwohls, unmoralisch im Namen der Moral.
Aber warum teilen Menschen die Ansichten der neuen Opfer, akzeptieren sie mitunter gar die ererbte Täterrolle? Sich als schuldig zu verstehen, erklärt Philosophin Lotter, kann paradoxerweise befreiend wirken: "Wer sich schuldig fühlt, der hätte auch anders handeln können. Er muss sich nicht ohnmächtig fühlen. Zudem ergibt sich eine klare Handlungsorientierung: Das Opfer muss entschädigt werden." Ich büße, also weiß ich um richtig und falsch.
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Pseudologen wollen Beachtung




In unübersichtlichen Zeiten erzählen Opfer eine kraftvolle Geschichte über Gut und Böse, Leid und Aufbegehren. Das sichert ihnen Aufmerksamkeit. Ein besonders anschauliches Beispiel bieten Pseudologen – zwanghafte Lügner. "Früher haben sich Pseudologen gerne als Adelige oder Weltreisende ausgegeben, um Anerkennung zu erlangen", erklärt der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Hans Stoffels. "Heute nehmen sie gerne die Opferrolle ein, zum Beispiel die Rolle des Opfers einer schweren Krebserkrankung oder einer Vergewaltigung." Stoffels behandelte einen Mann, der "behauptet hatte, sein Sohn sei nach einem Unfall verstorben, was – wie sich später herausstellte – gar nicht stimmte. Aber zunächst hatte er viel Zuwendung und Mitleid erfahren." Ihr Status beschert ihnen Beachtung und eine klar umrissene, positive Identität: Ich leide, also bin ich.
Noch vor wenigen Jahrzehnten schien diese Entwicklung undenkbar. Wer Gewalt erfuhr, dem wurde fast immer eine Mitschuld unterstellt. Auch deshalb wiesen Holocaust-Überlebende in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung "Opfer" empört von sich. Sie wähnten darin den Vorwurf, sie hätten sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Stattdessen betonten sie die Bedeutung jüdischen Widerstands gegen die Nazis. Opfer zu sein galt als Schande.
Seither hat unsere Gesellschaft sich radikal individualisiert. "Die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören, gibt es aber nach wie vor", sagt der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli. So unterschiedlich wir auch sind: "Auf das Gefühl, Opfer dunkler Mächte zu sein, darauf können wir uns einigen. Weil es uns nichts anderes abverlangt als das Gefühl, an nichts schuld zu sein." Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen nach Unschuld und Zugehörigkeit – ganz ohne die moralischen Grautöne und lästigen Pflichten, die echte Gemeinschaften ihren Mitgliedern zumuten. 

Indem sie sich machtlos geben, üben sie Macht aus

Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Gleichheit steckt tief in uns, sie gehört zum genetischen Erbe unser Jäger- und Sammler-Vorfahren. Für diese zählte nicht persönlicher Besitz, sondern sozialer Zusammenhalt. Nicht starre Hierarchien prägten ihren Alltag, sondern gemeinsam getroffene Entscheidungen. Für dieselben Werte glauben die neuen Opfer zu kämpfen. Linke Opfer sehnen sich nach universeller Gleichheit – und überbetonen zugleich Unterschiede. Rechte Opfer suchen Schutz in der Gemeinschaft – und fühlen sich doch immerzu bedroht.
So sind sie beide Symptomträger einer unglücklichen Gesellschaft. Sie beklagen auf kontraproduktive Weise, woran es unserer Überflussgesellschaft mangelt: an Mitgefühl, Wertschätzung, Vertrauen in uns selbst und andere. Wer diesen Mangel schon als Kind erleiden musste, den prägt diese Erfahrung fürs ganze Leben: Ich bin nicht richtig.
Natürlich gibt es wirklich Ohnmächtige und Diskriminierte. Doch die Menschen, um die es hier geht, sind nach herkömmlicher Ansicht gar keine Opfer. Vielmehr nutzen sie den Opferstatus, um andere unter moralischen Druck zu setzen und zu diskriminieren. Indem sie sich machtlos geben, üben sie Macht aus. Ihr Opferstatus ist ihr Kapital. So verurteilen sie sich selbst zur Unversöhnlichkeit.
Diese Opfer suchen keine Lösungen, sondern Schuldige. Doch ihre Vorwürfe gegen "Systemmedien", "Regimes" oder "alte, weiße Männer" können ihnen niemals die Genugtuung schenken, nach der sie sich sehnen. Anstatt sich den tieferen Ursachen ihrer Not zu stellen, machen sie andere für ihre unverstandenen Seelennöte verantwortlich. Das Böse lauert immer irgendwo da draußen.
"Opfer" sind nicht einfach die anderen. Als Opfer können wir alle uns fühlen, wenn wir nicht verstehen, was uns ängstigt.

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